Montag, 23. September 2013

Kapitel 2

Vielleicht sollte ich jetzt erzählen, wie es im Himmel so aussieht. Und wann könnte ich es besser machen, als wenn ich flog? Jedenfalls bestand der Himmel aus drei "Etagen". Diese Ebenen wurden durch die Wolkendecken getrennt und waren immer an verschiedenen Orten. Nur die unterste und dritte Ebene war so groß, dass sie beinahe vollständig die Erde bedeckte. Dort hielten sich die Schutzengel auf. Ich wusste von einem Schulausflug, wie es dort aussah. Überall standen große Schalen mit einer klaren Flüssigkeit. Sonst war nichts zu sehen. In diesen Schalen bewachten die Schutzengel ihre Schützlinge, wenn sie mal nicht auf der Erde sind. Auch die Menschen, die keinen persönlichen Schutzengel hatten, wurden hier bewacht. Allerdings musste man sich diese Ebene nicht weiß und leer vorstellen. Da jede Schale für eine Person stand, waren sie auch völlig unterschiedlich. Sie waren nicht immer ganz rund oder hatten die merkwürdigsten Muster. Diese Muster erstreckten sich auch über den Wolkenboden, sodass sie ineinander übergingen und völlig neue Muster bildeten. Manchmal entstanden aus solchen Mustern neue Schalen. Doch ich schweife ab.
Über der dritten Ebene befand sich meine Welt. Hier standen unsere Unterkünfte, die den Häusern der Menschen nachgeahmt wurden. Nur bestanden unsere Wände und Böden aus den Wolken. Wir konnten die Wolke so formen, wie wir es gerade wollten. Auch das Internat bestand aus Wolken, allerdings wurde dort die Illusion der Festigkeit geschaffen. Schließlich sollten wir uns dort mit den Menschen vertraut machen. Und wir durften nichts verändern. Hier auf der Ebene war tatsächlich alles weiß, was die Wände anging. Der Boden war mit Illusionen von Stein, Holz oder Gras bedeckt.

Montag, 19. August 2013

Kapitel 1


"Kyrilla! Haben Sie meinem Vortrag noch irgendetwas hinzuzufügen?" Ertappt richtete ich mich auf meinem Stuhl auf. "Nein, Rafael", antwortete ich und versuchte so viel Demut und Reue wie möglich in diese beiden Worte zu legen. Was mir offenbar nicht gelang. "Auch wenn Sie die Beste sind, rate ich Ihnen zuzuhören oder dieser Titel wird Ihnen sehr schnell wieder aberkannt", sagte Rafael und schickte mir einen funkelnden Blick. "Um es zusammenzufassen: Menschen geraten meist nicht willentlich in eine gefährliche Situation. Ihnen fehlt die Weitsicht, um die Gefahr zu erkennen, bevor sie sie bedroht. Hinzu kommt, dass der Geist vieler Menschen angesichts der Gefahr sich nicht entsinnen kann, was getan werden muss. Deshalb gibt es die Schutzengel, welche diese fehlende Weitsicht besitzen und mit ihr umzugehen weiß", fuhr er mit seinem Unterricht fort. "Noch irgendwelche Fragen?" Keiner in dem Raum rührte sich. Bei Rafael hatte nie jemand Fragen. Alle hörten so aufmerksam zu, dass sie keine Fragen haben konnten. Ich allerdings war heute nicht ganz so aufmerksam. Eigentlich war ich generell nicht sehr aufmerksam im Unterricht, aber heute hatte es einen Grund. Nach dem Unterricht würde ich meine Eltern wiedersehen! Ich hatte schon längst aufgehört die Tage ohne sie zu zählen. "Schön. Dann werden Sie mir einen Aufsatz zum Thema der Weitsicht bis zum Ende der Woche schreiben. Je länger und ausführlicher desto besser, aber übertreiben Sie es nicht. Und ich möchte am Ende nicht eine genaue Kopie meines Vortrags vor mir liegen haben, Aaron!" Ich und mein Nebenmann Aaron zuckten gleichermaßen zusammen. Während Aaron ganz schuldbewusst den Kopf senkte und gelobte, keine genaue Kopie von Rafaels Vortrag abzugeben, versuchte ich meine Ungeduld zu unterdrücken. Wann würde der Erzengel denn endlich den Unterricht beenden!? "Nun möchte ich Sie aber nicht länger in Anspruch nehmen. Gehet hin in Frieden!", sprach Rafael feierlich die erlösenden Worte und verschwand mit einem Aufstrahlen seines Heiligenscheins. Sofort begannen die Unterhaltungen. "Wohin sollen wir in Frieden gehen?", grummelte Aaron, während ich "Na endlich!" sagte und meine Sachen packte.  "Warum bist du so wild darauf deine Eltern zu sehen?", fragte Aaron und ließ sich absichtlich alle Zeit der Welt. Ich wartete drei Sekunden darauf, dass er seine Tasche fertig packte, dann nahm ich es selbst in die Hand und stopfte alles wahllos hinein. Dann nahm ich die Tasche und packte ihn am Arm. "Meine Eltern haben dich aufgenommen, also zeig ein wenig mehr Begeisterung!", herrschte ich ihn an und schleifte ihn aus dem Unterrichtsraum in den Korridor. Jeder Korridor in diesem Anwesen sah anders aus. Der Korridor, der zu Rafaels Unterrichtszimmer führte, wurde "der Korridor des Heiles" genannt und war dementsprechend hell, mit großen Fenstern, die alle paar Meter eine Flut aus Sonnenlicht hineinließen. Dieser Korridor konnte Seelen heilen, denn gegenüber der Fenster hing immer ein Spiegel. Ich wusste nicht, was die anderen darin sahen, dass sie so ehrfürchtig daran vorbeigingen, doch ich sah dort immer nur mein Spiegelbild. Wie immer ließ Aaron sich nicht die Zeit nehmen vor dem Spiegel halt zu machen und das Bild zu betrachten. Es stimmte ihn immer ein wenig traurig, sodass ich ihn weiterziehen konnte. Von dem Korridor des Heiles bogen wir in den Korridor Gottes ein, der Hauptkorridor in dem Anwesen. Hier waren keine Fenster, doch der Gang war trotzdem hell erleuchtet, und auch sonst waren hier keine anderen Gegenstände. In diesem Korridor hatte man einfach das Gefühl Gott nahe zu sein. Und dieser Korridor verfehlte seine Wirkung auf mich nicht. "Lass dir Zeit, Kyra. Komme zur Ruhe", sagte eine Stimme in meinem Kopf, von der ich glaubte, es sei die Stimme Gottes. Allerdings war ich mir da nicht so sicher. Denn er sagte  immer das selbe und er wiederholte seine Worte so lange, bis ich den Korridor durch das Eingangsportal verließ.
Wie immer vergaß ich die Augen zu schließen, als ich in das gleißende Licht der Sonne trat. Auch wenn es mir nicht weh tat, einen Augenblick blind zu sein, war nicht angenehm. Diesen Moment nutzte Aaron und befreite sich aus meinem Griff. Allerdings war es zu spät. Als ich wieder sehen konnte, hatten uns meine Eltern schon erreicht. Und meine Mutter legte auch schon gleich los: "Kyra! Ron! Wie schön euch wieder zu sehen! Wie geht es euch? Sind eure Flügel etwa gewachsen? Wie schnell die Zeit vergeht!" Ich lachte glücklich und badete in ihrer Fürsorglichkeit und Liebe. Ich ließ mich von beiden umarmen und redete meiner Mutter immer wieder dazwischen. Aaron ließ sich nur widerwillig umarmen und von meinem Vater nahm er keine Notiz. Irgendwann war einmal etwas zwischen ihnen vorgefallen, doch inzwischen fragte ich nicht mehr danach. Bei meiner Mutter allerdings bemühte Aaron sich immer, ihr die Zuneigung, die sie ihm in gleichen Teilen wie mir gab, zurückzugeben. "Du hast dir die Haare wachsen lassen!", stellte meine Mutter fest und strich ihm über sein pechschwarzes Haar. Eine Farbe, die in dieser Schattierung eigentlich kein Engel haben konnte. Meine Mutter zuckte leicht zusammen, als ihre Hand die Haare berührte, bemühte sich aber das zu überspielen und redete auf Aaron ein. Die anderen verbrannten sich die Seele, wenn sie Aaron, seine Haare und besonders seine Flügel genauer betrachteten. Ich schien mich aber daran gewöhnt zu haben oder meine Seele war daran schon abgestumpft. Das war eine mögliche Erklärung, weshalb ich in den Spiegeln in dem Korridor des Heilers nichts sah. Denn die andere mögliche Erklärung wäre, dass ich genauso mächtig wie die Erzengel war, die Aaron auch ohne allzu große Schmerzen ansehen konnten.
"Wie geht es dir, Kyrilla?", unterbrach mein Vater meine Gedankengänge. Im Gegensatz zu meiner Mutter war seine Liebe nicht überschwänglich und überall, sondern tief und bedacht. Wenn er mir diese Frage stellte, interessierte ihn die Antwort wirklich. "Die Schule langweilt mich, aber sonst geht es mir gut! Es ist schön euch zu sehen", antwortete ich ihm und verstärkte mein Lächeln. "Schön. Hat Gabriel deinem Praktikum zugestimmt?" "Noch nicht. Er wollte das erst noch kurz mit Gott besprechen, wenn er Zeit hat. Aber Gabriel meinte, dass nichts dagegen spräche", sagte ich, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme. Vor einem Monat hatte ich alle bisherigen Leistungen der Engel, die je auf die Schule der Engel gegangen waren, übertroffen und Gabriel war auf mich aufmerksam geworden. Er deutete an, dass ich früher als alle anderen zu den Menschen geschickt werden könnte, da ich das nötige Wissen besaß. Als ich dann darauf rumhackte, wurde daraus ein Praktikum. Allerdings sollte ich nicht gleich einen eigenen Schützling bekommen, sondern erst bei einem anderen Engel zuschauen und ein wenig zur Hand gehen. Leider gab es auch Neider und deshalb war ich in der letzten Zeit immer mit Aaron zusammen gewesen, da selbst meine Freunde sich nicht für mich freuen konnten. Aber es machte mir nicht viel aus. Solche Freunde waren keine echten Freunde.
"Kommt, fliegen wir nach Hause!", sagte schließlich meine Mutter, während die anderen Schüler aus dem Internatsgebäude strömten. Da widersprach ich nicht, denn in den letzten Tagen hatte ich keine Zeit zum fliegen gehabt. Meine Flügel waren schneeweiß, wie die von den Erzengeln. Noch nicht einmal meine Eltern hatten so weiße Flügel. Ihre Flügel waren einen Hauch grau. Doch Aaron war es mal wieder, der etwas speziell war. Seine Flügel waren im angelegtem Zustand ebenso strahlend weiß wie meine, doch wenn er sie ausbreitete, konnte man die Innenseite sehen. Das Schwarz war so dunkel, dass sie Dämonenflügeln Konkurrenz machten. Wenn man ihn von unten fliegen sah, konnte man ihn mit einem Dämonen der Hölle verwechseln. Es war schön öfters passiert, dass uns andere Engel angegriffen hatten, die noch nichts von Aaron gehört hatten. Deshalb flog er auch nicht so oft. Was eigentlich schade war, denn er konnte fantastisch fliegen. Ich musste immer meine gesamte Konzentration beisammen haben um nicht abzustürzen, während Aaron einmal fast beim Fliegen eingeschlafen war! Ich fand das nicht unfair, denn dafür war ich die beste Schülerin des Internats. Obwohl... Aaron kam in der Rangfolge gleich nach mir. Ich fand es unfair!
Als wir jetzt die Flügel entfalteten, brandete bei den herausströmenden Schülern Gemurmel auf. Aaron wollte schon reflexartig die Flügel anlegen, aber ich schubste ihn von hinten. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste er ein wenig mit den Flügeln schlagen. Und diese kleine Bewegung führte schon dazu, dass er abhob. Wie gesagt, es war unfair, wie leicht ihm das Fliegen fiel. Ich dagegen musste mich nun sammeln und meine ganze Energie auf die Flügel zu lenken. Mein Stolz ließ nicht zu, dass ich Anlauf nahm, also begann ich wenig elegant mit den Flügeln zu schlagen. Ich schaffte es, einigermaßen gerade in die Luft aufzusteigen, wo meine Eltern schon warteten. Allerdings hatte ich nicht die nötige Konzentration, um ihre besorgten Blicke zu bemerken. Aaron war schon längst auf und davon, um den Blicken der Schülerschar zu entkommen und ich konnte es ihm nicht verdenken.